Neulich war ich mit meiner Mutter (was ich viel zu selten mache) in Friedrichskoog Spitze (einem Ort, von dem ich noch nie etwas gehört hatte). Es handelt sich dabei um das „Strandbad“ von Friedrichskoog. Es liegt im südlichen Dithmarschen, so etwa auf halber Strecke zwischen Brunsbüttel und Büsum. Ohne Blog wäre ich niemals hingefunden. Denn Friedrichskoog Spitze wartet mit einem Grünstrand auf. Und das fand ich früher immer absurd.
Grünstrand bedeutet: es gibt keinen Strand. Denn Strand ist (ich zitiere Wiki) definiert als Küsten- oder Uferstreifen aus Sand oder Geröll. Beides gibt es in Friedrichskoog Spitze nicht. In Friedrichskoog Spitze gibt es meistens nicht einmal ein Ufer. Dafür aber Watt. Und selten habe ich die Schönheit des Wattenmeers so intensiv erlebt wie hier.
Südlich des Strandes befindet sich der Trischendamm. Er wurde in den 30er Jahren zum Deichschutz errichtet und ist 2,2 Kilometer lang. Man spaziert also mitten hinein ins Wattenmeer. Das ist eine besondere Erfahrung und gehört für mich ab sofort zu den Dingen, die man mal gemacht haben sollte.
Links des Trischendamms sind ausgedehnte Salzwiesen entstanden, auf denen Seevögelkolonien brüten. Irgendwann wird das vielleicht alles festes Land sein, dachte ich, als wir so dahin spazierten. Und dass man ab einem gewissen Alter allmählich dahinter kommt: das Kostbarste, was wir haben, ist Zeit.
Nun bin ich nicht in der Lage, in ständiger buddhistischer Bewusstheit zu leben. Denn a) bin ich nicht der Typ dafür. Und b) habe ich so etwas wie einen Alltag. Und der besteht eben auch aus Situationen, in denen ich mir wünsche, die Zeit möge möglichst schnell vorbeigehen.
Umso intensiver sind die Augenblicke, in denen ich mir wünsche, die Zeit möge stehenbleiben. Jeder hat ja so seine Sternstunden. Meine schlägt, wenn ich mit jemandem der mir nahe steht, eine Landschaft erlebe, die mich berührt.
Dem Blog sei Dank habe ich solche Momente monatlich. Er wirkt wie eine Selbstverpflichtung. Während ich früher gern auf den Tag gewartet habe, an dem ein Ausflug zufällig mal passt, plane ich mittlerweile im Voraus. Denn zufällig klappte bei mir zu selten. Da war immer eine Einladung, eine berufliche Verpflichtung, irgendwas zu putzen oder das Wetter im Weg.
Der Trischendamm führt in die Unendlichkeit. Hell leuchten in der Ferne Muschel- und Sandbänke. Sowie die wandernde Vogelschutzinsel Trischen. Auf dem Damm ist es ultraleise und bizarr, denn man spaziert auf die Ölförderinsel Mittelplate zu. Trischen wie Mittelplate bleiben unerreichbar und damit unwirklich.
Ich fühlte mich an Seltjarnanes erinnert, einen Vorort von Reykjavik auf Island. Vielleicht weil dort bei Flut eine vorgelagerte kleine Insel ebenfalls unerreichbar ist. Aber vermutlich war es eher das Licht.
Dieser September läßt sich kühl an. So dass alles wie frisch gewaschen wirkt. Blankgeputzt. Nordisch eben. Diese Klarheit. Diese Weite. Ich könnte durchdrehen vor Begeisterung. Wenn mich das Ganze nicht so erden würde. Es beruhigt mich.
Die Sicht war weit. Im Süden bis nach Cuxhaven und Neuwerk. Im Norden bis nach Büsum. Und ich dachte, wie seltsam das ist, dass Aldi bereits Weihnachtsgebäck in die Regale räumt und auf den DIY-Blogs Anleitungen für Adventskalender Hochkonjunktur haben. Während die Natur gerade ihre allerschönsten Momente überhaupt zelebriert.
Mich hat der Trischendamm derat überwältigt, dass ich anschließend gar keine Lust mehr hatte, den Rest zu fotografieren. Wenn man mich fragt: Abgesehen vom Wattenmeer sieht die Gegend um Friedrichskoog aus wie ein galaktisches Kohlfeld. Mit unzählen Windrädern bestückt.
Das Gute an kühlen Septembern ist, dass man mehr Lust auf Kohlgerichte hat als in heißen Altweibersommern. Ich habe seit Jahrzehnten nicht mehr so gute Kohlrouladen gegessen wie im Deichrestraurant „Zur Spitze“. Vielleicht ist es auch so, dass Kohl nie so gut schmeckt, wie nach einem ausgedehnten Spaziergang am Deich.
Überhaupt der Deich. Er ist die Hauptsache an Dithmarschen. Über Kilometer, Kilometer, Kilometer kann man auf seiner Krone laufen. Und dabei ändert sich nichts; abgesehen vom Licht. Da kann man gar nicht anders, als zu entspannen.
Wird man müde, kann man auch super auf dem Deich sitzen. Wird man noch müder, geht man zu Bett. Was anderes ist nicht möglich. Denn Nachtleben sucht man in Friedrichskoog vergebens. Und es ist so still. Das glaubt einem kein Mensch.
In unserer Ferienwohnung führte eine kleine Stiege vom Wohnzimmer auf den Spitzboden. Dort lag ich einige Minuten wach und schaute in den Sternenhimmel, die gedämpfte Stimme einer Moderatorin im Ohr. Denn meine Mutter schaute unten noch Fernsehen. Und da war die Zeit auf einmal aufgehoben. Ich habe geschlafen wie ein Kind.