Irgendwo in Düsseldorf, auf einem Speicher vielleicht oder im hintersten Winkel eines Einbauschranks, archiviert möglicherweise ein Super-8-Film mein 5-jähriges Ich am Strand von Brodau. Mag auch sein, dass der Streifen inzwischen digitalisiert ist. Oder entsorgt. Aufgenommen jedenfalls hat ihn »die Verwandtschaft«, die über Jahrzehnte ihren Sommerurlaub bei meinen Großeltern verbrachte.
Das ist Urzeiten her und damals war der Wald auf der Steilküste von Brodau noch kein Ruheforst. Für mich bedeutete er ohnehin nur einen quälend langen Weg zum Strand. Heute sind mir die wenigen hundert Meter durch den idyllischen Küstenwald eher zu kurz. Und auch ansonsten hat sich seitdem so einiges auf den Kopf gestellt.
Verwandschaftliche Sommergäste gehörten in meiner Kindheit an der Ostseeküste von Schleswig-Holstein dazu wie Zugvögel. Ihr Kommen war in vielen Familien üblich, selbstverständlich, glaube ich auch. Und zwar nicht für einen entspannten Kurztrip unter Freunden, sondern einen ganzen Urlaub lang und mit zwei, drei, vier Kindern im Gepäck. Ich kann mir in der Rückschau überhaupt nicht ausmalen, wo sie alle geschlafen haben. Zumindest in den Häusern meiner Omas und Opas muss es mit beträchtlichem Zusammenrücken, Platz machen, Zimmer räumen einhergegangen sein.
Ob das für die Erwachsenen immer die reine Freude war, weiß ich nicht. Für Kinder war es prima. Erweiterte es doch den Kreis wie die Möglichkeiten. Manche Cousins oder Großcousinen, werden mir für immer als Sommerkinder in Erinnerung bleiben, weil ich sie nie im Winter gesehen habe. Und bestimmte Orte sind für mich eng mit Tanten und Großonkeln verbunden, denn gewisse Ausflüge machte man nur mit Besuch.
Schon Wochen bevor die Sommergäste anreisten, setzte kollektives Beten um gutes Wetter ein. Oft genug war der Wunsch vergeblich und der Sommer verregnet. Das besang damals Rudi Carrell. »Gutes Wetter« meinte früher ausschließlich Strandwetter und zwar solches, bei dem man sich einen maximalen Sonnenbrand zuziehen konnte. »Das wird später braun“, behauptete man damals. Und hoffte auf den tiefdunklen Teint, den die Werbeplakate von Delial und Piz Buin versprachen.
Heute empfinde ich an weiten Abschnitten der Ostseeküste das alte gute Wetter als das Schlechteste. Beziehungsweise das alte schlechte Wetter als das Beste. Zwischen Brodau und Grömitz etwa ist es jetzt im Februar besonders schön. Jetzt muss die ebenso filigrane wie fragile Steilküste nur die Menge an Ausflüglern aufnehmen, die sie auch vertragen kann. Im Sommer ist dort für meinen Geschmack schon seit Jahren zu viel los. Im letzten natürlich ganz besonders und im kommenden sicher auch. Aber das ist ein Typfrage und ich will auch nicht meckern. Sondern es eher wie ein Zusammenrücken sehen, Platz machen, Zimmer räumen, eben so wie ich es von ganz früher kenne.
Wanderung von Brodau nach Grömitz
Denn was sich über die Jahrzehnte gar nicht verändert hat, ist das Gefühl, nach längerer Abwesenheit an einen Strand zu kommen. Und das möchte ich jedem gönnen, der es brauchen kann. Genau wie die Wanderung von Brodau nach Grömitz. Startet man am Ruheforst, gelangt man schnell an einen exponierten natürlichen Aussichtbalkon. Dann muss man der Steilküste noch ein kurzes Stück auf weichem Waldboden in nördlicher Richtung folgen, bevor eine schmaler Pfad zum Strand leitet. Dort hat man bald das Ziel – die Bettenburgen von Grömitz – im Blick. Bis man sie erreicht, darf man noch fünf Kilometer lang Dinge tun, die man schwer vermisst hat.
Dinge, die ich schwer vermisst habe: Tief einsinken in gewaltigen Algenkissen und in sehr feinem Sand. Den Wellenschlag der Ostsee. Das leise Knacken zerbrechender Muscheln unter den Füßen. Die Ruhe, wenn man mal stehen bleibt, um sich umzusehen. Über Wackersteine balancieren. Besonders dort, wo ein Bach ins Meer gluckert. Manchmal läuft das Ruckzuck wie bei einer Gemse. Bis man ins Stocken gerät und auf einmal nicht mehr weiter weiß. Dann muss man erst einmal Ausschau halten, welcher Stein sich für den nächsten Schritt anbietet.
Grömitz startet im Süden mit einem Yachthafen. Er ist viel später entstanden als der Ortskern im 70er-Jahre-Style und entspricht daher eher dem Zeitgeist. Boote liegen dort im Februar nicht. Aber eine Fischbrötchenbude hat geöffnet. Die Anlage ist sehr schön gemacht. Es gibt Spielgeräte und einen richtig interessanten Infopfad für Kinder. Man könnte es hier gut sein lassen. Und nach einer kleinen Pause den Rückweg antreten.
Läuft man weiter, gelangt man zu einem der schönsten Strände von Ost-Holstein. Aber eben auch in die Wirklichkeit. Die ist in Grömitz ohnehin Geschmackssache. Dieser Tage angesichtes verwaister Hotels und Strandlokale aber ganz besonders. Auf der Promenade herrscht am Wochenende Maskenpflicht. Und aus Lautsprechern schallt etwa alle 20 Minuten die Bitte, sie auch einzuhalten. Es ist ein bisschen wie im Film West-World. Irreal.
Der Rückweg auf der Steilküste ist dafür umso grandioser. Besonders jetzt im Februar, weil noch nicht allzu viele Radfahrer unterwegs sind. Fast durchgehend spaziert man ganz nach am Klippenrand, einzig bei einem Campingplatz ist es quasi unter Todesstrafe verboten, weil PRIVATBESITZ. Da macht man dann einfach einen kleinen Schlenker an den Strand, bevor man bei Bliesdorf wieder auf den Klippenwanderpfad gelangt.
Wenn man den Ruheforst Brodau wieder erreicht, empfiehlt sich der linke Weg, also der, der dicht an der Kliffkante bleibt. Dort kann man die Wanderung nach insgesamt zehn Kilometer auf einer Bank beim Andachtsplatz mit guten Gedanken für seine Liebsten und einer Prise Dankbarkeit abschließen.
Man kann die Sache natürlich auch anders herum angehen. Also von Grömitz nach Brodau wandern und wieder zurück. Mit dem richtigen Timing erreicht man die Promenade dann in Dämmerung, wo aktuell – und noch bis Ende Februar – 30 Illuminationen, die Grömitzer Winterlichter, zur Foto-Safari einladen.
Moin Stefanie, habe mir gerade die Rundwanderung bei Google Maps angeschaut, sieht wirklich interessant aus. Auch die Länge von 10km ist ideal. Kommt auf meine Ostsee-Liste…..
LG aus der Nachbarschaft, kv
Ist wirklich schön – besonders jetzt 🙂
Solche Bettenburgen würden mich niemals als Gast beherbergen,das entspricht nicht meinen Vorstellungen von Urlaub.
Stand und Umgebung gefallen mir durchaus,auch wenn ich Nordfriesland bevorzuge.
Ich hoffe,im September wieder Gast an der Nordseeküste sein zu können-das entsprechende Quartier dafür ist schon mal vorreserviert.
Grüße aus Duisburg
Ralf
Ich drück Dir die Daumen. Aber sowas von!
Ein kurzweiliger und interessanter Bericht, liebe Stefanie. Irgendwie habe ich beim Lesen immer das Gefühl, ich gehe direkt neben Dir. Und wie Du die Besuche der Verwandtschaft damals beschreibst, einfach herrlich!
Liebe Dienstagsgrüße von Martina
Liebe Martina, das nehme ich als Kompliment! 🙂 (Ich kenne das Gefühl. Es ist echt erstaunlich, dass man das über Blogs/ Kommentare entwickeln kann.). Ein schönes Wochenende und viele Grüße, Stefanie